Tagung zur Kritik der Esoterik
23. April | 15 Uhr | Cineding (Karl-Heine-Str. 83, Leipzig)
Es sprechen Ansgar Martins und Jérôme Seeburger.
Der Leipziger Westen hat sich in den letzten Jahren von einem eher unbeliebten und von Industrie und Verfall gezeichneten Stadtteil zu einem sogenannten Szeneviertel gewandelt. Bioläden und Spätshops, in denen mittlerweile umwelt- und gesundheitsbewusst konsumiert werden kann, reihen sich an aufwendig aufgehübschte Industriebauten, in denen Callcenter und Ateliers eingezogen sind. Nach Dienstschluss trifft sich die studentische Künstler- und Alternativszene zum besseren Leben in Bars und Kneipen, von denen die ein oder andere tagsüber auch schon mal als Fahrradladen fungieren kann. Die neoliberale Lebens- und Arbeitswelt, in der sich fast alle als lebende Ich-AGs zu betätigen und sich in permanenter Selbstoptimierung und -verwaltung zu üben haben, hat also auch hier Einzug gehalten.
Gleichzeitig ist der Westen Leipzigs und besonders der für seine familiäre Gemütlichkeit bekannte Stadtteil Schleußig ein Zentrum des esoterischen Wahnsinns. An jeder Ecke finden sich Lichtwerkstätten, Yogatempel, ganzheitlich Heilpraktiker, Gemeinschaftspraxen für chinesische, kinesiologische und alternative Medizin sowie Zentren für anthroposophische, fernöstliche, geomantische und energetische Ernährungs-, Raum-, und Lebensberatung. Homöopathische Arzneimittel gehören mittlerweile zum unhinterfragten Angebot in den Apotheken und werden auch von vielen Allgemeinmedizinern gern empfohlen und verschrieben. Etabliert hat sich ein florierender Beratungs-, Vortrags-, Seminar- und Workshopbetrieb, in dem Therapie und Aberglaube zur Ununterscheidbarkeit verschmolzen sind.
In der bunten Wühlkiste des therapeutischen Okkultismus ist für jeden Geschmack und für die individuelle Bewältigung jeder Lebenslage etwas dabei. Versprochen wird von den Gurus und Seminarleitern höheres Wissen über den Weg zu „Harmonie, Freude und Leichtigkeit“, zu einem gesünderen und stressfreien Leben. Für läppische 18 Euro Kursbeitrag kann in einem Meditationszentrum gelernt werden, „wie wir mit Leichtigkeit unseren Alltag meistern“ und „wie wir in Harmonie mit unseren Mitmenschen leben“. Nicht weniger wird feilgeboten als „der Pfad zur inneren Einheit“, der Weg zu unserem eigentlichen Selbst: „Wir alle wollen uns mit uns selbst in Einklang fühlen.“ Dass der esoterische Irrationalismus lächerlich ist, sagt dabei nichts gegen seine Gefährlichkeit.
Die esoterischen Angebote zielen darauf ab, mittels therapeutisch angeleiteter Selbstsuggestion die Subjekte mit der gesellschaftlichen Objektivität zu versöhnen. Gründe für das eigene Scheitern, für die gefühlte innere Zerrissenheit sollen nicht in den äußeren Verhältnissen gesucht werden. Die angestrebte Selbstführungskompetenz der esoterischen Therapie entspricht der Form konformistischer Subjektivität, wie sie von den Imperativen der modernen Arbeitswelt gefordert wird. Allenthalben greift eine in den Bereich der Esoterik übergreifende Ideologie der innovativen Organisation, Selbstregulation, Beratung und Mediation, der Kommunikation und Kompetenz Raum, die permanent die scheinhafte Glättung gesellschaftlich erzeugter Widersprüche vorantreibt. Überall leistet die entfesselte irrationale Rationalität ihren Beitrag zur Prozessoperationalisierung und Verlaufsoptimierung des gesellschaftlichen Vollzugs.
Die sich harmlos gebende esoterische Selbstsuche beschränkt sich aber nicht auf die innere Feindbestimmung und die Austreibung des letzten Zweifels an der höheren Sinnhaftigkeit des Weltverlaufs. Ihr ist zugleich eine nach außen gerichtete verschwörungsideologische Feindbestimmung eingeschrieben: „Suche dein Selbst, finde deinen Feind.“
Führersuche und Feindbestimmung. Thesen zum autoritären Charakter der
esoterischen Subjektivität
Esoteriker heute inszenieren sich erfolgreich als spirituelle Individualisten, die sich bloß auf der Suche nach dem Selbst befinden. Blinde Fügsamkeit und Folgsamkeit scheinen ihnen fremd. Als vollkommen kritische Konsumenten lassen sie sich auf dem Markt der esoterischen Glaubenswaren nichts vormachen. In ihrer vorgeblichen Selbstbezüglichkeit kennen sie scheinbar weder einen Führer noch einen Feind. Man könnte also glauben, das Modell „autoritäre Sekte“ hätte seine Attraktivität verloren und die Selbstsuche der esoterischen Spirituellen hätte mit dem antisemitischen Verschwörungswahn eines Jan van Helsing nichts zu tun.
Dieser Schein soll im Vortrag zerstört und die Autoritätsgebundenheit der Selbstsuche zum Vorschein gebracht werden. Die vermeintlichen Individualisten mögen sich von Sekten fernhalten, ihre Suche bleibt dennoch eine nach dem Führer, der ihnen ihre Melodie vorsingt. Sie brauchen keine einzige Zeile Jan van Helsings zu lesen, um ihm schicksalhaft auf seiner Suche nach dem Selbst zu folgen und den absoluten Feind zu finden.
Jérôme Seeburger (Leipzig) arbeitet an einer psychoanalytisch-sozialpsychologischen Studie zum esoterischen Autoritarismus. Unter anderem ist von ihm erschienen: Thesen zum ‚Primat des Antisemitismus‘. in: Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie, Heft 2/2015.
Versagung als Erlösung. Esoterische Moralphilosophie
Esoterische Selbstfindung vermag trotz glorreicher Versprechen dem Leid der Welt nicht zu entkommen. Der Widerspruch von verkündeter Harmonie und realem Elend kann durch die Suche nach dem Feind aufgelöst werden, aber auch, indem man die Lebensnot kurzerhand zur Tugend erklärt, so dass Selbstverwirklichung und Selbstunterwerfung ununterscheidbar werden. „Erfreue dich dessen, was dir gewährt ist, entbehre gern, was dir nicht beschert ist … das gibt die rechte Stimmung für den Esoteriker“ – sagt einer, der es wissen muss: Rudolf Steiner, dessen Anthroposophie („Weisheit vom Menschen“) eine der erfolgreichsten esoterischen Religionen des 20. Jahrhunderts wurde. Moderne Esoterik bringt zeitgemäße Moralvorstellungen hervor, denen zufolge sich das Bestehende bereits durch sein bloßes Bestehen als Manifestation eines höheren Sinnes auszeichnet. Schlechterdings jedes Übel, von Krankheiten zum Völkermord, lässt sich so als verkannter Segen umdeuten, als spannende Herausforderung auf dem Weg zur Perfektion, oder wenigstens als Lektion, aus der man gestärkt hervorgehen soll. Der Vortrag möchte das an der theosophischen „Wurzelrassen“-Lehre, der anthroposophischen Medizin und Eckart Tolles Konzept des „Schmerzkörpers“ illustrieren.
Ansgar Martins (Frankfurt a.M.) forscht zur Philosophie Siegfried Kracauers und hat verschiedentlich über Zusammenhänge von Esoterik, Religion und Moderne publiziert, zuletzt: Adorno und die Kabbala, Potsdam (in Vorbereitung); Rassismus und Geschichtsmetaphysik. Esoterischer Darwinismus und Freiheitsphilosophie bei Rudolf Steiner, Frankfurt a.M. 2012.
Die Veranstaltung ist eine Kooperation zwischen dem Arbeitskreis Gesellschaftskritik und dem Landesfilmdienst Sachsen.