Vollversion des Textes aus Junge World 15/2016
Wer die sächsischen Verhältnisse auf CDU, AfD und Pegida reduziert, lässt ein wesentliches Schmiermittel der provinziellen Borniertheit außer Acht. Seit Jahrzehnten stimmen alle wesentlichen gesellschaftlichen Akteure in den identitären Chor der Tradition und Heimatbindung ein.
Von Felix Schilk und Tim Zeidler
Zur Europawahl 2009 lag die Wahlbeteiligung im 2008 entstandenen Landkreis Mittelsachsen fast 15% höher als der gesamtdeutsche Durchschnitt. Parallel zur Zusammensetzung des europäischen Parlaments konnten sich die Mittelsachsen an einer Abstimmung über ein neues KfZ-Kennzeichen beteiligen, die sie durch mühsame Unterschriftensammlungen errungen hatten. Die lächerliche Kampfabstimmung darüber, welche Stadt dem neuen Landkreis ihre Buchstaben leihen soll, mobilisierte Zehntausende an die Wahlurnen. Vorausgegangen waren monatelange Streitereien und lokalpatriotische Überbietungswettbewerbe.
Das Beispiel eignet sich, um einige ostdeutsche Besonderheiten aufzuzeigen, die sich in Sachsen am stärksten bemerkbar machen und in der Regel weniger Beachtung finden als der problematische Umgang der sächsischen Staatsregierung mit Fremdenfeindlichkeit und die Unfähigkeit der Polizei, entschieden gegen den Mob in Clausnitz und anderswo vorzugehen. Peter Korigs Blick auf andere Transformationsgesellschaften in Osteuropa und die ökonomisch-strukturelle Differenzierung der ehemaligen DDR-Bezirke (Jungle World 10/2016) führt zwar einige dieser Besonderheiten an, nennt aber keinen der wesentlichen regionalen Katalysatoren. Seine Analyse, dass das Problem nicht auf Landkreisebene zu lösen sei, stimmt nur zum Teil.
Obwohl die föderalen Länder in der DDR seit den 50er Jahren sukzessive als Verwaltungseinheiten abgeschafft wurden und die Bezirke an ihre Stelle traten, erhielt sich ein sächsisches Sonderbewusstsein, an das 1990 nahtlos angeknüpft werden konnte. Die CDU stellte bisher vor allem deshalb sämtliche Landesregierungen, weil es ihr am besten gelang, als Partei mit Sachsen identifiziert zu werden. Sie wird weniger wegen ihrer Inhalte, sondern aufgrund ihres identitären Angebotes als gewissermaßen ideeller Gesamtsachse gewählt. Entsprechend lautete Stanislaw Tillichs Wahlspruch auch: „Der Sachse.“ Die oft auf die Rolle der CDU reduzierte Kritik an den sächsischen Verhältnissen, wie sie beispielhaft Thorsten Mense (Jungle World 9/2016) vorführte, verkennt, dass sich der Erfolg der Partei nicht nur aus einem besonderen Konservatismus, sondern auch aus ihrer Funktion als Heimatpartei speist, in der ihr SPD, Linke und Grüne regelmäßig Konkurrenz machen. Das zeigt sich groteskerweise gerade auch im „Kampf gegen Rechts“. Die sächsische SPD plakatierte im Landtagswahlkampf 2014 gegen rechte Nestbeschmutzer den Slogan „Heimat schützen! Gemeinsam gegen Nazis“, während die Grünen ein Jahr zuvor in Schneeberg den fremdenfeindlichen Protesten mit „authentischer Erzgebirgskultur“ entgegentraten, um die Bevölkerung mit „heimatverbundenen Liedern gegen rechtsextremistisches Gedankengut zu immunisieren“. Die Rentnerverbände der Linkspartei leben in ihrer ideologischen Wahrnehmung ohnehin noch immer in der DDR, in der Heimat und Sozialismus Synonyme waren. An viele Gemeinplätze der linken Basis, wie die Liebe zum Volk, das Ressentiment gegen den Westen und die Begeisterung für das autoritäre Russland, braucht die AfD heute nur anzuknüpfen. Ihre Feindschaft gegen die etablierten Parteien deckt sich mit dem ostdeutschen Hass auf arrogante Westeliten.
Im Gegensatz zu den anderen Neuen Bundesländern verfügt Sachsen über die drei größten Städte Ostdeutschlands. Diese teilen das Land in unterschiedliche Regionen mit konkurrierenden Fußballvereinen, Traditionen, Heimatnarrativen und Dialekten, an denen Fremde schnell erkannt werden. Im Erzgebirge verlaufen Sprach- und Fortpflanzungsgrenzen um winzigste Ortschaften, deren Insassen garstig über den nächsten Hügel blicken. Da im Schatten der großen Städte das uneingestandene Gefühl des Abgehängtseins noch größer ist, verlangen die damit verbundenen narzisstischen Kränkungen umso stärker nach Kompensation. Deshalb kultivieren alle politischen Akteure eine libidinöse Heimatbindung, die allem Fremden misstrauisch begegnet und dumpf auf ihre Traditionen pocht. Bezeichnend ist, dass die Propagandakampagnen der sächsischen Klein- und Mittelstädte allesamt mit Gigantismus und Affekten operieren. Von Imagewerbung über Wahlkämpfe bis zur Lokalpresse und der Verwaltung wird eine Liebe zur Region und zur eigenen Stadt gefordert und gefördert und jede Banalität mit Weltbedeutung aufgeblasen. Lokale Künstler, Sehenswürdigkeiten und Spezialitäten haben nicht etwa Bedeutung für Sachsen, sondern spielen mindestens in einer Weltliga, die den Eingeborenen meist nur durch die domestizierende Berichterstattung der lokalen Erbauungsjournaille und den Sachsenspiegel des MDR zugänglich ist. Dort wird über Ereignisse ausschließlich aus einer Perspektive berichtet, die die Bedeutung für lokale Partikularitäten hervorhebt und den Horizont an der Stadtmauer begrenzt. Auch die regionalen Imagekampagnen, durch die Heimatpresse sekundiert, verkaufen provinzielle Behaglichkeit, schwören auf die lokale Gemeinschaft ein und unterminieren die individuelle Kritikfähigkeit. Als Folge setzt sich kaum jemand ernsthaft mit der Realität auseinander, sondern immer nur in der Gemeinschaft zusammen, wo dann alle Ressentiments noch einmal bestätigt werden. Für die neue Generation besorgt das der „Heimatkundeunterricht“ schon in den Grundschulen, in dessen Lehrplan es heißt: „Heimat hat zentrale Bedeutung für den Erwerb von Wissen und die Anbahnung von Weltverständnis. In der Auseinandersetzung mit regionalen Gegebenheiten entwickeln die Schüler ihre individuelle emotionale Beziehung dazu und lernen Verantwortung zu übernehmen.“
Tatsächlich gibt es in der sächsischen Peripherie keine eigenständige Weltkultur, die Reibung und Widerspruch zum Gewordenen provozieren könnte. Die Forderung der AfD, Museen und Theater auf ein identitäres Programm zu verpflichten, ist hier bereits seit Jahrzehnten Realität. Das neue, weltoffene und neoliberale Deutschland ist in der sächsischen Provinz niemals richtig angekommen, weshalb die Diskrepanz zur bundesrepublikanischen Öffentlichkeit als Entfremdung empfunden wird. Stattdessen ist hier der Standortfaktor Weltoffenheit ein realitätsflüchtiger Marketingslogan, der notdürftig darüber hinwegtäuscht, dass auf gesellschaftliche Veränderungen stets mit aggressiven Verlustängsten reagiert wird. Die wenigen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die es auch in sächsischen Kleinstädten gibt und die schon mit ihren notorischen Namen „Stadt X ist/bleibt/wird bunt“ die triste Realität beschönigen, richten sich meist gegen eine falsche Außenwahrnehmung, anstatt die engstirnigen Verhältnisse anzugreifen. Ihre konstruktive Mitarbeit führt lediglich zu einer Modernisierung des Lokalpatriotismus und ist Futter für die mantrahaft vorgetragene Schuldabwehr der lokalen Verantwortungsträger, dass Mob und Neonazis mit Sicherheit aus anderen Städten angereist seien und keinen Rückhalt in der Bevölkerung hätten.
In den sächsischen Städten und Dörfern mischt sich narzisstisches Imponiergehabe mit dem ostdeutschen Gefühl, ständig zu kurz zu kommen. Fremde sollen die aufwendig aufgehübschten Innenstädte bewundern, die mit der flächendeckenden Kürzung der Soziokultur bezahlt wurden, aber keinen Schmutz zurücklassen oder auf Dauer bleiben. Hinter der Fassadennormalität kocht derweil die Wut auf Wessis, Flüchtlinge und andere Eindringlinge. Dabei spielt sicherlich auch Rassismus eine Rolle, aber die Reduzierung der ostdeutschen Verhältnisse auf ihn und die in linken Texten monoton vorgetragene Problemdiagnose „rassistische Zustände“ erklärt seine Genese und Bedeutung ebenso wenig wie die hilflose Auflistung von „Drecksnestern“, die seit einiger Zeit zu den antifaschistischen Erbauungsritualen gehört. Große Teile der sächsischen Linken sind ohnehin selbst heimattreue Kiezpatrioten, die sich wacker gegen szenefremde Eindringlinge und Gentrifizierung genannte Veränderungen stemmen und unablässig Identität, Mythen und Feindbilder produzieren. Auf Kritik reagieren sie ebenso allergisch wie die Stadt- und Dorfgemeinschaften im Hinterland auf Nestbeschmutzer.
Im selbsternannten Elbflorenz zirkuliert die Rede von der „guten“ und der „bösen“ Flussseite, die Pegidamilieu und den akademischen Nachwuchs trennen. In Klein-Paris, wie Leipzig von manchen Antifagruppen genannt wird, zelebriert man den Mythos der Trutzburg Connewitz. Der Bewegungsradius der jeweiligen Bewohner reicht über den nächsten Spätshop selten hinaus. Man bleibt also stets unter seinesgleichen und kommt mit der Welt kaum in Kontakt. Selbstverständlich sind die identitären Verfallsformen der politischen Linken nicht die Ursache der sächsischen Verhältnisse, aber sie haben einiges mit ihnen gemeinsam. Es wäre dagegen viel gewonnen, wenn gegen diese Zustände kritische Einzelpersonen, Initiativen und eine Öffentlichkeit gestärkt würden, die der veröffentlichten Meinung nicht jede lokalpatriotische und nach Konsens gierende Parole durchgehen lassen.