Lektüreseminar mit Micha Böhme und Martin Dornis
19.- 20. September|jeweils 10:30 Uhr bis 18 Uhr | Universität Leipzig, Ziegenledersaal (Campusinnenhof)
Da die Teilnehmerzahl auf 20 Personen begrenzt ist, bitten wir darum, sich verbindlich unter folgender E-Mail-Adresse anzumelden: ak_gesellschaftskritik@mailbox.org. Grundlage des Seminars ist die vorherige Lektüre eines Readers, der rechtzeitig via E-Mail verschickt wird. Für die Seminarteilnahme erheben wir einen Unkostenbeitrag von 10 Euro.
Karl Marx war, wie der Untertitel seines Hauptwerks („Zur Kritik der politischen Ökonomie“) zeigt, keineswegs nur ein Kritiker der Ökonomie oder gar ein Ökonom. Gerade sein angeblich ökonomischstes Werk ist vom ersten bis zum letzten Satz notwendig zugleich ein zutiefst politisches Buch. Allerdings war Marx kein Anhänger des Staates oder der Politik, sondern vielmehr deren erklärter Kritiker. Wobei Kritik bei ihm auch die Verteidigung der Errungenschaften des Kritisierten bedeutet. Die Kritik des Staates sollte Thema weiterer Bände des Marxschen Hauptwerkes werden. Auf die Kritik der ökonomischen Seite der politischen Ökonomie sollte die Kritik an deren politischer Seite folgen – mit dem Ziel einer Abschaffung des Staates. Dazu aber kam es nicht. Was Marx fertig stellte, war – und auch das nur so leidlich – der erste Teil des geplanten Werkes, die Kritik der Ökonomie – die aber nur als Grundlage dessen gedacht war, was Marx eigentlich vor hatte, die Kritik des Staates.
Gleichzeitig kritisiert Marx die Anarchisten, namentlich Proudhon und Bakunin aufs Heftigste, und zwar durchaus zu Recht. Gegenstand dieses Streits war aber nicht das Ziel des Anarchismus, die Abschaffung des Staates (darüber war sich Marx mit den Anarchisten vielmehr einig), sondern die Weise, wie die Anarchisten über den Staat dachten: sie verabsolutierten ihn nämlich und setzten ihn nicht in den Zusammenhang mit seiner ökonomischen Grundlage oder sie strebten gar danach, ihn ohne diese aufzuheben (etwa Proudhon wollte zwar den Staat aber nicht Geld und Ware abschaffen).
Aus dieser Kritik des Anarchismus auf der einen Seite und aus dem unvollendeten Hauptwerk auf der anderen ergab sich ein folgenschweres Missverständnis: Marx hätte die kapitalistische Ökonomie kritisiert, den Staat jedoch verteidigt, ihn nur als ein Instrument betrachtet, das von der revolutionären Arbeiterklasse als politisches Mittel übernommen werden könnte. Dieser „Marxismus“ (eben jenes folgenschwere historische Missverständnis) erhob sich bald darauf zum ideologischen Programm der Arbeiterparteien, der Sozialdemokraten und der Kommunisten gleichermaßen. Die Marxsche Gesellschaftskritik wurde hier ihres kritischen Gehalts beraubt. Bis heute jedoch halten viele Linke – mit vermeintlichem Bezug auf Marx – die kapitalistische Ökonomie für schlechter als ihren Staat, von dem sie meinen, ihm käme die Aufgabe zu, die Ökonomie in die Schranken zu verweisen. So wird die Globalisierung von vielen Linken als ein angeblich „entfesselter Raubtierkapitalismus“ interpretiert, der die Entmachtung des Staates bzw. der Politik forcieren würde. Damit wird einerseits der Zusammenhang von Politik und Ökonomie und somit die revolutionäre Kraft der Marxschen Kritik verschüttet und andererseits die Basis für eine neue autoritäre Gesellschaft gelegt. Zudem kommt es in diesem Kontext fast zwangsläufig zu Personifizierungen der als böse und menschenfeindlich erachteten Finanzmärkte. Gesellschaftskritik ist jedoch nur als Einheit von Kritik des Staates und des Kapitals fassbar, nicht nur als Kritik einer dieser beiden Seiten.
Die Unterordnung der Ökonomie unter den Staat hingegen war für Marx gerade Ausdruck vorkapitalistischer, direkter Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse, die durch die kapitalistische Gesellschaft im fortschrittlichen Sinne aufgehoben wurde. Marx feierte den Kapitalismus für etwas, wofür diese Gesellschaft von den heutigen Linken kritisiert wird: dass der Staat der Ökonomie unterworfen wurde. Nur deckte Marx auf, dass die kapitalistische Ökonomie weiterhin notwendig den Staat braucht, um ihre Herrschaft abzusichern, weshalb auch sie notwendig verschwinden müsse, weil eben, so Marx, alle Verhältnisse zu stürzen sind, in denen der Mensch ein unfreies, verlassenes und geknechtetes Wesen ist; alle, das heißt: nicht nur der Staat sondern auch die kapitalistische Ökonomie, genau in dieser Reihenfolge. Keinesfalls jedoch ist der Staat in irgendeinem Sinne gegen die Ökonomie in Stellung zu bringen. Einer derartigen Konterrevolution von links ist vielmehr mit den Mitteln der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie entgegen zuarbeiten. Im Seminar geht es anhand klassischer Texte über den Staat und aktueller Stellungnahmen der LINKEN zur Banken-, Finanz- und Eurokrise um die Bedeutung des Staates in linker und emanzipatorischer Politik. Der Antisemitismus gilt gemeinhin bloß als Ideologie, in der die Juden als Sündenböcke für die Verwerfungen und Krisen der kapitalistischen Gesellschaft fungieren. Jedoch ist die kapitalistische Gesellschaft, wie Marx das schon an ihrer Elementarform der Ware aufzeigt, stets doppelgesichtig: Setzt sich diese zusammen aus dem Gegensatz von Gebrauchswert (konkret) und Wert (abstrakt), so zerfällt die Gesellschaft in Gesellschaft (konkret) und Staat (abstrakt). Im Antisemitismus reflektiert sich nicht nur der Doppelcharakter der Produktionsweise verkehrt sondern auch der Doppelcharakter des Staates: nicht nur sind die Juden im Antisemitismus für die Krisen der Gesellschaft verantwortlich, auch die Gewalt des Staates wird dieser als äußerlich angesehen und im Antizionismus in einem einzelnen, besonderen Staat, dem „Juden unter den Staaten“: Israel, zugeschrieben. Grundlage zur Diskussion gibt der Text „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ von Moishe Postone sowie historische und aktuelle antisemitische und antizionistische Karikaturen.