Vortrag und Diskussion mit Thomas von der Osten-Sacken
14. November | 18 Uhr | Universität Leipzig (HSG) | Hörsaal 3
„Hier erhebt sich und flattert die Flagge der Einheit Gottes. Ihr Schatten bedeckt Land von Aleppo bis Diyala. Unter ihr sind die Mauern der Heuchler niedergerissen worden, ihre Flaggen gefallen und ihre Grenzen zerstört worden. Ihre Soldaten sind entweder getötet, gefangen oder besiegt. Die Muslime sind geehrt. Die Ungläubigen sind mit Schande bestraft. Die Sunniten sind Herrscher und werden hochgeachtet. Das Volk der Ketzer ist gedemütigt. […] Kreuze und Gräber sind zerstört. Gefangene werden durch die Klinge des Schwertes befreit. […] Wir erklären gegenüber den Muslimen, dass es mit der Ausrufung des Kalifats die Pflicht aller Muslime ist, dem Kalifen Ibrahim Treue zu schwören und ihn zu unterstützen. Die Legitimität aller Emirate, Gruppen, Staaten und Organisationen wird nichtig durch die Ausbreitung der Herrschaft des Kalifats und die Ankunft seiner Truppen in ihren Gebieten. […] Bei Gott, wenn ihr der Demokratie, dem Säkularismus, dem Nationalismus, ebenso wie all dem anderen Müll und den Ideen aus dem Westen keinen Glauben schenkt und zur eurer Religion und eurem Glauben eilt, dann, bei Gott, wird die Erde euch gehören und der Osten und Westen werden sich euch unterwerfen. Das ist das Versprechen Gottes an euch.“
Mit diesen Worten rief der Sprecher der dschihadistischen Terrorsekte ISIS, Abu Mohammed al-Adnani, Ende Juni einen islamischen Gottesstaat aus. Zu diesem Zeitpunkt kontrollierte die aus einem al-Kaida-Ableger hervorgegangene und fortan als „Islamischer Staat“ (IS) firmierende Organisation ein Gebiet, das sich von der syrisch-türkischen Grenze bis wenige Kilometer vor Bagdad erstreckte und dabei weite Teile des östlichen Syrien und den Großteil des nördlichen Irak umfasste. In den Gebieten, die die sunnitischen Gotteskrieger unter ihre Kontrolle gebracht hatten, etablierten sie ein Regime des entfesselten Tugendterrors: Gnadenlos wird gegen jene vorgegangen, die den neuen Machthabern als Ungläubige, Apostaten und Ketzer gelten. Ganz in Analogie zu den Lehren und dem Leben Mohammeds gehören Exekutionen, Vergewaltigungen und Verstümmelungen sowie Frauenhandel und Zwangsheiraten zum alltäglichen Vollzug. Entsprechend der strikten Scharia-Gesetze, deren Einhaltung von einer Sittenpolizei überwacht wird, sind der Alkoholkonsum und das Rauchen tabu und werden ebenso wie die „ungenügende“ Verschleierung von Frauen mit martialischen Strafen belegt.
Der Siegeszug des „Islamischen Staates“ erscheint heute als vorläufiger Höhepunkt der im syrischen Bürgerkrieg entfalteten Krisendynamik. Im Nachgang der Anti-Regime-Proteste im Kontext des „arabischen Frühlings“ entwickelte sich Syrien zum Hauptschauplatz des seit Jahrzehnten schwelenden und nun offen ausbrechenden Kampfes um die Vorherrschaft in der Region zwischen einer iranisch-schiitischen Achse auf der einen und ihren arabisch-sunnitischen Widersachern auf der anderen Seite. Die Brüche in dieser Frontstellung, die sich noch vor dem Ausbruch des Krieges in Syrien finden ließen, wurden nach und nach begradigt. Durch die mit der fortschreitenden Militarisierung einhergehende Islamisierung des syrischen Aufstands brach aber gleichfalls ein radikal konfessioneller Vielfrontenkrieg aus, der zu nicht geringem Teil als Bandenkrieg innerhalb der sunnitischen Widerstandsbewegung selbst ausgetragen wurde, die bereits in der Vergangenheit ein Bündnis von Feinden gegen den gemeinsamen Hauptfeind Iran gewesen war. Der zum dschihadistischen Bandenkrieg entfesselte Aufstand gegen das Baath-Regime bewahrheitete schließlich noch die Propagandalüge Assads, der von Anfang an behauptet hatte, dass es sich bei den Unruhen im Land um Aktionen islamistischer Terroristen handle. Ob das in Syrien ausgebrochene Kriegschaos auch auf den benachbarten Irak übergreifen würde, schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Schließlich war auch der Irak nach dem Abzug der US-amerikanischen Truppen 2011 in einem Bürgerkrieg versunken, der entlang der innerislamischen Konfessionsgrenze verlief. Aus dem zusammenbrechenden Machtgefüge im arabischen Raum hat sich mit dem „Islamischen Staat“ auf dem Territorium zweier weitgehend desintegrierter Staatsgebilde schließlich eine islamisch-internationalistische Theokratie mit offen ausgesprochenem Weltherrschaftsanspruch erhoben.
Die internationale Konstellation mutet derweil grotesk an. Über Jahrzehnte gehörte es zum Programm westlicher Nahost-Politik, gegen den schiitischen Iran und seine Verbündeten die Aufrüstung der sunnitischen Kräfte in der Region zu betreiben. Nun aber, wo eine sunnitische Terrorsekte dort ein großes zusammenhängendes und geostrategisch wichtiges Gebiet kontrolliert, auf diesem das Kalifat ausgerufen hat, alle umliegenden Staatsgebilde schlicht für ungültig erklärt hat, und ihre Anhänger weltweit in den heiligen Krieg ziehen, haben sich die Koordinaten dieser ohnehin im Umbruch befindlichen Politik noch einmal deutlich verschoben. Die Bildung einer breiten Allianz gegen den „Islamischen Staat“, die auch im Interesse der Regionalmächte lag, hat dabei Akteure zusammengeführt, deren Zusammenarbeit vorher kaum denkbar war und letztlich für eine Befriedung der Region nahezu nichts verspricht. So kommen Staaten wie Saudi-Arabien und Katar, die sich jahrelang als Finanziers des sunnitisch-islamischen Terrors gegen den „schiitischen Halbmond“ betätigten, nun nicht umhin, sich der Allianz gegen den „Islamischen Staat“ anzuschließen. Vorangetrieben wird durch die aktuelle Bündnispolitik vor allem die ohnehin schon forcierte Integration der „islamischen Republik“ Iran als politischer und wirtschaftlicher Partner des Westens in der Region. Dass es sich beim Teheraner Ajatollah-Regime im Gegensatz zum sunnitischen „Islamischen Staat“ lediglich um die schiitische Ausprägung einer islamischen Terrorherrschaft handelt und dass diese wie der „Islamische Staat“ in Struktur und Praxis bemerkenswerte Ähnlichkeiten zum Nationalsozialismus aufweist, scheint dabei kaum von handlungsleitendem Interesse zu sein. Bizarr ist in diesem Zusammenhang der Rollenwandel des Assad-Regimes: vom geächteten Oberhaupt eines „Schurkenstaates“ zum unverzichtbaren Verhandlungspartner über die Entsorgung der syrischen Chemiewaffenbestände zum ungebeten Quasipartner im „war on terror“. Es ist überhaupt bemerkenswert, dass sich nun in der Allianz gegen den „Islamischen Staat“ gerade Akteure unter dem Banner des Kampfes gegen den Terrorismus versammeln, von denen die meisten sich – bei allen konfessionellen und geostrategischen Differenzen – einig sind in ihrem grenzenlosen Hass auf Israel und dem entschiedenen Kampf gegen jede Form von Demokratisierung und Emanzipation.
Dass ein derartiges Szenario möglich geworden ist, hängt wiederum eng mit der Politik der Nichteinmischung westlicher Staaten gegenüber dem syrischen Aufstand zusammen. Während das syrische Regime auf die Unterstützung seiner mächtigen Partner Iran und Russland zählen konnte, wurde die Aufrüstung seiner Gegner Staaten wie der AKP-regierten Türkei, Saudi-Arabien und Katar überlassen. Das bedeutete von Anfang an die weitgehende Marginalisierung der einigermaßen säkularen und pro-westlichen Teile der Opposition und eine massive Stärkung dschihadistischer Gruppen, zu denen auch ISIS gehörte. Die einzige Partei, der es aufgrund ihrer Sonderstellung in diesem Krieg bisher gelang, eine schlagkräftige Widerstandsbewegung mit einer Perspektive jenseits von failed states, islamischen Diktaturen und dem todeswütigen Internationalismus des „Islamischen Staates“ zu organisieren, sind die kurdischen Kämpfer aus Syrien und den Autonomiegebieten des Nordirak, deren Interesse allerdings vernünftigerweise primär der Selbstverteidigung gegen den Übergriff des um diese Gebiete herum tobenden Krieges gilt und die daher weder das syrische Baath-Regime stürzen noch die Region vom dschihadistischen Terror befreien werden.
Dass man angesichts der enormen Bedrohung, die von den Mörderbanden des „Islamischen Staates“ für die kurdischen Gebiete in Syrien und Irak ausgeht, in der deutschen Politik wochenlang darüber debattierte, ob es im Interesse des Friedens sein könne, Waffen in Krisengebiete zu liefern, ist geradezu zynisch. Schließlich gehört die Bundesrepublik zu den größten Rüstungsexporteuren weltweit, liefert seit Jahrzehnten Waffen in Regionen, die alles andere als politisch stabil sind und versorgt dabei auch autokratische Regime im Nahen Osten mit Kriegsgerät. Zu diesem Zynismus passt ein deutscher Außenminister, der – ganz auf US-amerikanisch-europäischer Linie – für eine Allianz aus arabischen Staaten, der Türkei und dem Iran gegen den „Islamischen Staat“ wirbt, genauso wie eine Bundeskanzlerin, die es für geboten hält, dem Emir von Katar ihr Vertrauen auszusprechen und die guten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und der islamischen Golfmonarchie zu bekräftigen, während von dieser mitfinanzierte Dschihadisten sich am Regionalkrieg im Nahen Osten beteiligen.
Derweil ist es nur noch eine Randnotiz in den Medien, wenn wieder ein paar Dutzend Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, die auch nur zu den vermeintlichen happy few gehören, die überhaupt das Geld aufbringen, einen Schlepper zu zahlen, um irgendwie in die Festung Europa zu gelangen. Denn die anderen, die dieses Geld nicht haben, gehören zu jenen Millionen, die ihr Leben als Flüchtlinge oder internally displaced persons in einem der Lager fristen müssen, die in Jordanien, dem Libanon, der Türkei oder dem Irak errichtet wurden. An die zehn Millionen Menschen mussten inzwischen fliehen und gerade heißt es seitens der UN und anderer Geber, die wenigen Gelder, die für sie zur Verfügung stünden, würden nun auch noch um 40% zusammengestrichen. Wenn sie auch sonst nichts produzieren, bei der Produktion von Tod, Elend und Flüchtlingen nehmen sich die Dschihadisten des „Islamischen Staates“ und das Assad-Regime nichts. Gefoltert und exekutiert wird von beiden, erstere allerdings haben die Sklaverei wieder eingeführt für jezidische Frauen und Mädchen, ihre Kriegsbeute. Und die Barbarei zieht Tausende in ihren Bann. Freiwillige Gotteskrieger aus aller Welt, tausende auch aus Deutschland, zieht es ins Kalifat des „Islamischen Staates“, auf Assads Seite kämpft nicht nur die Hisbollah, sondern schiitische Milizionäre aus dem Irak, Iran, Afghanistan und dem Jemen. Der Dschihad ist global, das Schlachtfeld eines Krieges der internationalen Brigaden unter dem Banner des Propheten.
Thomas von der Osten-Sacken ist Geschäftsführer von WADI e.V., einer Hilfsorganisation, die seit 1991 schwerpunktmäßig in Irakisch-Kurdistan versucht Demokratisierungs- und Gesetzgebungsprozesse voranzubringen und beim Aufbau lokaler Medien hilft. Außerdem berichtet er regelmäßig für die Wochenzeitschrift Jungle World und andere Medien über aktuelle Entwicklungen im Nahen Osten.